Samstag, 7. September 2013
Stuhl
Es ist nicht schade um den Stuhl. Ein einfacher Holzstuhl, Massenwahre. Die Trümmer liegen noch im Sschlafzimmer, weil doch Besuch kam. Aber die Lücke erinnert ständig. Ich weiss auch nicht mehr, wie das passieren konnte. Ja, ich war gereizt, weil überall Sachen herumlagen und hätte 10 Minuten zuvor beinahe ein Glas zu Boden geworfen. Ich war müde und hätte mich gerne hingelegt, fühlte mich aber dazu zu unruhig. Dann wollte ich nur die Sachen vom Stuhl nehmen, eine Jeans, ein Tragetuch und ein Kissen, und als nächstes hatte ich ihn schon zertrümmert.
Ich war allein, zum Glück.

Ich habe keine Ahnung, woher diese Aggression plötzlich kommt. Sie soll wieder verschwinden.

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Mittwoch, 4. September 2013
Realität
Ich komme gerade in der Realität an und das heißt insbesondere: Akzeptieren, Tolerieren, Hinnehmen.

Der verrückte Radfahrer und ich leben nun seit einem halben Jahr zusammen, haben seit viereinhalb Monaten ein Kind und sind seit ca. 14 Monaten zusammen (kennen tun wir uns auch nur ein paar Wochen länger). Wir sind also aus dem Gröbsten heraus: Wir haben unsere Sachen alle in seiner Wohnung untergebracht, mit dem Kind läufts und jetzt sortieren wir gerade uns. Vorher kamen wir nicht dazu (ich mußte noch ganz viel schreiben, bevor das Kind kam, er ganz viel radfahren).
Ich bin bei diesem Sortieren nun an diesem Punkt angelangt: Ich liebe ihn, möchte mit ihm - nicht nur, aber auch - wegen des gemeinsamen Kindes eine längerfristige (sagen wir ruhig für immer) Zukunft haben und gleichzeitig kenne ich nun viele seiner Macken und bin klug und lebenserfahren genug um zu wissen, dass bleibt bei fast allen jetzt für immer so, schlimmstenfalls kommen mit dem Alter noch weitere hinzu oder werden ausgebaut.

Ich muss also jetzt damit leben, dass:

- man auch in größter Eile morgens frische Brombeeren fürs Frühstück von der Hecke oberhalb des Feldes (da sind sie gerade am besten!) pflücken muss
- es für sinnvoll erachtet wird, während des Staubsaugens alle Fenster und Türen zu öffnen, weil so der ganze Staub besser entfernt werden kann
- er sich, weil ich ihm gebeten hatte, auf einem wissenschaftlichen Kolloquium mit langen Hosen zu erscheinen, vor der Eingangstüre umzieht (nein, nicht aus Trotz, er fand das völlig normal)
- er in den seltsamsten Gangarten (Pferdegalopp, Entenwatscheln) durch die Wohnung UND den Supermarkt flaniert
- den ganzen Sommer über schon Weihnachtslieder singt, weil ihm sonst keine Lieder einfallen, das kleine Mädchen aber mit Singen zu beruhigen ist. AUCH in der Öffentlichkeit
- er vier Minuten bevor er aus dem Haus muss, um einen Zug zu erreichen, noch unter die Dusche geht
- er wörtlich keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Die werden hier mit der Fliegenklatsche nur betäubt und dann rausgetragen
- er mit einem Kreuzzeichen sein Stück Fleisch auf dem Teller aussegnet, bevor er es isst (auch bei Wurst, auch bei Speckstückchen, auch beim Grillen mit Freunden, auch im Restaurant)
- alle gefundenen Bussardfedern bei uns an der Decke aufgehängt werden
- für eine zweistündige Radfahrt eine komplett gepackte Satteltasche (Regenzeug, Pullover, Keckse, Wasser) mitgenomen werden muss
- entsprechendes gilt mit Rucksack für einen Spaziergang
- auch wenn wir beim Nachbarn 200 m weiter im Garten sind
- er jedesmal vergisst den Rückweg miteinzuplanen, wenn er allein oder mit Kind und/oder mir Wandern oder Radfahren geht
- er sich vor dem Schlafengehen noch mit einem Buch und Tee vors Haus setzen muss. AUCH im Winter bei Minusgraden, Schneesturm, Starkregen, Heimkommen um 3 Uhr nachts
- in jedem Bach gebadet werden muss, egal wie wild, wie kalt er ist und immer ohne Badehose
- er von jeder Kirche der näheren und ferneren Umgebung die besondere Energie kennt und diese beschreibt, wenn von dem Ort die Rede ist
- beim Kochen grundsätzlich mindestens vier verschiedene Fettsorten verwendet werden müssen: verschiedene Öle, dann noch Butter und zum Schluss Sahne und/oder Creme fraiche und dann noch Käse drauf (immerhin können wir das jetzt trennen in meins ohne und seins mit)
- in sein Müsli Joghurt UND Kefir UND Milch UND Quark UND Sahne muss
- egal wie eilig oder weit es ist, immer der Weg mit mehr Sonne gewählt wird
- man Babies auch im Tragetuch mit dem Rad transportieren kann
- alles mit dem Löffel gegessen wird. Alles
- immer zu spät gekommen wird. Immer
- er keine Uhr trägt
- er keine Zeitung liest, Radio hört, Fernsehen guckt (gut!), im Internet surft. Nichts
- er seinen Wecker, der ein paarmal nicht geweckt hat, nicht aussortiert, sondern einen zweiten zur Unterstützung kauft
- hier mindestens zehn verschiedene Paar Gummistiefel herumstehen. Edit: Vierzehn. Wir müssen reden

Sonst ist aber eigentlich alles gut.

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Donnerstag, 29. August 2013
Sie arbeitet wieder
Als die Anfrage kam, habe ich nicht lange gezögert und zugesagt: Ein Vortrag in einem kleinen Kolloquium, zum Thema habe ich schon was Halbfertiges und große Lust, daran weiterzubasteln! Die letzten zwei Wochen war ich entweder allein mit Kind zu Hause, während der Radfahrer arbeitete oder er allein mit Kind, während ich in diverse Bibliotheken und sogar einmal kurz ins Archiv fuhr und arbeitete. Zurück kam ich immer gutgelaunt strahlend und entspannt. Kurz vor dem Termin wurde es dann doch noch hektisch, weil gerade nicht einfach mal ein langer Abend zur Fertigstellung des Vortrags genommen werden konnte. Dafür fuhr der Radfahrer am Vortag des Kolloquiums mit Kind und abgepumpter Milch auf eine längere Radtour los und ich wurde doch noch und mit einigen Abstrichen rechtzeitig fertig. Einer der Abstriche war, den Vortrag nochmal laut zu üben. Demenstsprechend holperig wurde er vorgetragen. Es ist gerade völlig okay für mich, nur 80 % Leistung zu bringen und trotzdem zufrieden mit mir zu sein.

Das Kolloquium selber war großartig! Als ich mit meinem Vortrag an die Reihe kam, war mein Beitrag in einigen Punkten längst überholt, dafür gings nach meinem Vortrag anderen genauso. Genau das verstehe ich unter einer fruchtbaren Tagung. Der Radfahrer und das kleine Mädchen waren einfach mitangereist. Die Vormittagsmahlzeit der Kleinen wurde wieder outgesourcst und ich habe sie dann während der Mittagspause beim gemeinsamen Essen im Restaurant gestillt. Davor hatte ich etwas Bammel, aber dann kam es mir doch ganz natürlich vor. Als sie auf meinem Schoß unruhig wurde, habe ich sie einfach an die Brust gelegt und mich weiter mit dem Historiker vor mir und dem Denkmalpfleger neben mir unterhalten. Ein wenig froh war ich dann aber doch, dass der Projektleiter meines Forschungsprojekts am Nebentisch saß...
Und der Radfahrer war auch glücklich, weil das kleine Mädchen an diesem Tag überwiegend gutgelaunt war, er ihr Fläschchen geben konnte, alle, einschließlich mir, ihn mit Kind im Tragetuch großartig fanden und er mich mal in Aktion erleben konnte.

Eine Erfahrung weiter: Ich als Wissenschaftlerin und Mutter in der Öffentlichkeit. Geht doch.

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Samstag, 24. August 2013
Die Entdeckung des Gesangs
Der Radfahrer kommt gegen Mitternacht erst von einer zweitages Radtour zurück. Verschwitzt, verdreckt und glücklich. Ich bin noch wach, mit dem schlafenden Kind auf dem Schoß hatte ich auf dem Sofa gelesen. Über das Begrüßen und Erzählen wird sie ebenfalls wach, ich wickel nochmal und höre weiter dem Radfahrer zu. Es ist schon gegen ein Uhr, das kleine Mädchen liegt, immernoch wach und still, halbvergessen auf dem Wickeltisch und beginnt plötzlich eine Art Gesang. Mit weit offenem Mund, ausgebreiteten Armen und nur mit A und E probiert sie ihre Stimme. Lauter und leiser, höher und tiefer. Einige Atemzüge ist sie wieder still, bewegt nur den Mund, schiebt die Zunge hin und her und holt wieder tief Luft, blickt nach oben in die Ferne und singt.

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Dienstag, 20. August 2013
Herzensbrecherin


Den Blick hat sie weder von mir noch vom verrückten Radfahrer.

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Sonntag, 18. August 2013
Anhänger
Ein Freund, der gerade bei sich ausmistet und uns deswegen regelmäßig Kindersachen von seinem Sohn vorbeibringt, stellte uns beim letzten Besuch ein gut erhaltenes Kinderfahrrad mit Helm in die Wohnung. Das kleine Mädchen ist gerade vier Monate alt und besitzt schon ein Rad mit Gangschaltung. Wir brauchen aber eher einen Anhänger und die Versuche des verrückten Radfahrers, beim Fahrradschrauber Anhänger probezufahren, scheiterten bisher jedesmal daran, dass er dann doch lieber kurzfristig etwas anderes machen wollte (er mag den Schauber nicht) und es geht ja auch ganz gut mit dem Kind im Tragetuch auf dem Rad...

Vorgestern war er wieder unterwegs. Abends klingelte eine Fahrradklingel nachhaltig auf der Straße. Wenns S. ist, soll er doch einfach reinkommen, dachte ich nur, und arbeitete weiter an meinem Vortrag. Irgendwann erschien er aufgeregt (ohne Kind!) an der Terrassentür und dann bin ich doch mal gucken gegangen: Das Mädchen lag friedlich schlafend in einem superteuren Chariot-Anhänger mit allem Zubehör. Der Radfahrer war zufällig einem alten Bekannten begegnet, der seinen Anhänger loswerden wollte und kurzentschlossen hatten die beiden das Geschäft gleich abgewickelt: 200 € hat der Bekannte dafür bekommen, obwohl er eigentlich nur 150 € wollte, neu hätte uns das alles weit über 1.000 € gekostet. Der Wagen ist gut erhalten, nur am Winterfußsack ist der Reißverschluss kaputt.

Am nächsten Tag machten wir selbstverständlich eine Radtour zu dritt, sowas muss gefeiert werden. Die Kleine schlief die meiste Zeit oder sah in die vorbeirauschende Gegegend, am liebsten aber zur Mama auf den Rad neben ihr. Alles gut. Nur auf dem Rückweg war dann erstmal nicht mehr alles gut. Der Radfahrer hatte mich kurz zuvor auf die gefährliche Stelle hingewiesen: Recht steile Abfahrt, auf halber Höhe muss man in eine kleine Straße links abbiegen. Er fuhr mit dem Anhänger vor mir, vorbildlich langsam und im großen Bogen in die Kurve. Es wäre nichts passiert, wenn nicht die Straße in der Kurve auch noch in die falsche Richtung abschüssig gewesen wäre, aber so kippte der Wagen in voller Fahrt vor meinen Augen um. Bis auf einen großen Schrecken bei allen dreien ist nichts passiert und kurzfristiges Stillen auf der Kupplung eines Pferdeanhängers hat dann wieder alle soweit beruhigt, dass wir weiterfahren konnten.

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Samstag, 10. August 2013
Seligkeit
Frühmorgens im Halbschlaf spüre ich, wie eine kleine Hand an meinem Nachthemd nestelt und ganz weich über meine Hand wandert. Ich blinzel, das kleine Mädchen neben mir hat die Augen noch geschlossen, atmet aber unruhig. Ich nehme die Minihand in meine, sie lächelt im Schlaf, seufzt tief und wir schlafen beide weiter.

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Montag, 5. August 2013
Wanderung mit Applaus
Spontan beschließen wir nach dem Frühstück zu einer Wanderung aufzubrechen. "Himbeeren und Heidelbeeren?" fragt der Radfahrer. Ich entscheide mich für die Heidel, weil Him hier im Garten und nahen Wald schon genügend wachsen. Der eine bekommts Kind, die andere den Rucksack mit Wasser und Broten und wir fahren zum Naturschutzwald. Leider hatte ich die Kamera vergessen, denn wie das kleine Mädchen auf einem Knie ihres Papas mit beiden Händen in die Heidelbeersträuche griff, wie wir ja auch, war ein schönes Bild.
Am Moor machen wir Pause und ich finde ein trockenes Plätzchen zum Stillen. Der Radfahrer findet derweil Sonnentau (habe ich dort zum 1. Mal in meinem Leben wild gesehen!) und wir bedauern wieder die zurückgelassene Kamera.
Zum Abschluss besichtigen wir noch die Burg, die nicht weit vom Autoplatz steht. Um den Turmschlüssel zu bekommen müssen wir nochmal raus aus der Anlage, jedesmal dabei über eine behelfsmäßige Bühne klettern, die vor dem Bergfried aufgebaut worden war. Gegenüber der Bühne lagern im Schatten einige Altpunker mit großen Hunden und trinken Bier. Als wir zum letzten Mal über die Bühne müssen, flüstere ich dem Radfaher zu "mach mir alles nach, so ein Publikum bekommen wir nie wieder!" Der Radfahrer ziert sich, weil er meint, mit diesen Männern wäre nicht zu spaßen, macht dann aber brav mit und ich gebe Regieanweisungen: Zum Bühnenrand nebeneinander vorgehen, jetzt eine tiefe Verbeugung, dann über den Seitenzugang ab. Hinter uns hören wir im Hinausgehen Applaus und Zugaberufe.

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Samstag, 20. Juli 2013
Geburt
Vor gut drei Monaten, die Tage glichen sich alle und sind sehr friedlich: Ich mache einen Spaziergang, langsam den Berg hoch, dort eine Runde um das Feld, manchmal auch einen Stück durch den Wald, dann den Berg langsam wieder zurück. Ich lese viel zu Hause, feile noch ein wenig an den letzten Texten, dich ich vor der Geburt abgeben wollte. Der verrückte Radfahrer macht derweil Radtouren und kocht abends für mich. Wir sind ganz froh, dass unser kleines Mädchen sich noch Zeit lässt. Auch wenn wir uns auf sie freuen, verunsichert uns dieses neue Leben. Am Samstag verläuft der Tag genauso, nur dass der Radfahrer auf einem Kongress ist (Handy dabei und der Rückweg würde nur eine halbe Stunde dauern). Ich treffe auf meinem Spaziergang eine Kollegin, unterhalten uns kurz, es gibt nichts Neues zu berichten. Dann gehe ich alleine weiter, überdenke die Lage und bemerke, dass ich das Kind noch nicht kommen lassen möchte. Ich bin noch nicht bereit, es ist ja auch alles schön bequem so, wie es ist. Wenn ich mit der Geburt aber nicht doch noch im Krankenhaus landen will (auf keinen Fall!), muss ich mich dem neuen Leben langsam mal stellen. Und während ich so durch den Wald laufe, versuche ich das Kind willkommen zu heißen, mich bereit zu machen. Abends bespreche ich die Lage mit dem Radfahrer und rate ihm, nicht ganz so spät ins Bett zu gehen, damit er halbwegs ausgeschlafen sei, wenns beispielsweise frühmorgends losginge. Dass ich während des Tages dreimal ordentlich auf der Toilette war, also den Darm gut entleert hatte, nahm ich als Zeichen für eine bevorstehende Geburt - irgendwann am nächsten Tag vielleicht.

Wie jeden abend gab es einige unspezifische Senkwehene, von richtigen Wehen hatte ich nach wie vor keine Ahnung. Um 23 Uhr gehe ich zu Bett. Um 23:15 weiß ich, was eine richtige Wehe ist: stark, so dass ich sofort auf allen Vieren bin. Und ich weiß auch, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. 10 Minuten später die nächste und dann so weiter. Ich laufe in der Wohnung herum, muss mich bei jeder Wehe irgendwo festhalten, so stark sind sie von Anfang an, dazwischen singe ich, irgendwas, was mir gerade in den Sinn kommt, das entspannt mich. Vom Singen wird der Radfahrer angelockt, den ich - ich bin einigermaßen ruhig - noch nicht informiert hatte, der soll mal noch eine Auszeit haben. Um Mitternacht sind die Abstände schon bei 7 Minuten, um halb eins rufe ich die Hebamme an, die Dienst hat, es ist zum Glück auch meine Nachsorgehebamme. Sie murmelt mit verschlafener Stimme (sie hatte tagsüber eine langwierige Geburt und war gerade ins Bett gegangen), ich solle mich melden, wenn die Wehen alle fünf Minuten kommen. Den Radfahrer schicke ich in mein Bett, er soll auch nochmal schlafen, ich wandere derweil noch in der Wohnung auf und ab, den Eimer immer griffbereit, weil mir ab und zu schlecht wird. Um halb drei, die Abstände betragen jetzt vier Minuten, die in mir arbeitende Kraft wird immer stärker und ich merke, dass ich jetzt mehr Unterstützung benötige, rufe ich erst die Hebamme an, wir verabreden uns für 3 Uhr ins Geburtshaus, dann wecke ich den Radfahrer. Kurz bevor wir loswollen, kann ich den Eimer dann auch endlich benutzen. Normalerweise habe ich nach dem Kotzen auch immer Kreislaufschwäche, diesmal nur das Gefühl, das ist nun erledigt, jetzt kann es losgehen. Im Auto hänge ich mit beiden Händen am Haltegriff und verfluche die vielen Schlaglöcher, eine Stunde früher zu fahren wäre auch nicht schlecht gewesen.

Im Geburtshaus angekommen, wartet schon meine Hebamme, die zweite wird erst gegen fünf Uhr dazukommen. Wir sind allein dort, im Geburtszimmer brennen einige Kerzen und die Hebamme lässt das Wasser in die große Wanne ein. Ich bin froh, endlich ins Wasser zu dürfen und es tut gut, mich während der Wehen an dem geknotetem Tuch über mir festhalten zu können. In der nun folgenden Zeit fühle ich mich völlig Eins mit dem Vorgang. Ich bewege mich im Wasser wie eine Schlange und summe in den Wehenpausen immer noch leise vor mich hin. Die Hebamme bugsiert mich irgendwann auf den Rücken und zeigt mir, wo ich mich festhalten und wo abstützen kann. Sie sitzt nun mir schräg gegenüber, der Radfahrer hinter mir, hält mir den Kopf und wischt mir ab und zu mit einem nach Rosen duftenden Waschlappen über Gesicht und Hals. Die Anwsenheit des Radfahrer ist schön, aber nicht notwendig. Ohne den ständigen Kontakt zur Hebamme vor mir, wäre ich verloren gewesen. Längst presse ich mit, aber dabei verliere ich den Kontakt. Ich weiß nicht, wohin ich schieben soll, die Kraft bleibt im Kopf - geplatzte Äderchen im Auge zeigen am Tag, wieviel Kraft ich unnötig verschwendet habe. Die Hebamme erklärt mir, dass ich nach unten pressen muss, aber während einer Wehe weiß ich nicht mehr, wo das ist und schreie sie schließlich an, sie solle mir doch zeigen, wo! Ab dann legt sie mir immer während einer Wehe die Finger auf dem Damm und ich kenne wieder die Richtung. Kurz müssen wir alle lachen, weil der Radfahrer auf die Anweisung, nicht im Kopf zu pressen, mein: "Aber sie ist doch Geisteswissenschaftlerin!" Trotzdem ist nun der Wurm drin. Die Schmerzen sind viel stärker, ich will nicht mehr, bekomme bei jeder einsetzenden Wehe eine Heidenangst und schreie schließlich währenddessen um Hilfe, ich kann garnicht anders. In meinem Kopf läuft kurz ein Film: Ich muß nur sagen, dass ich nicht mehr kann; die Hebammen werden helfen, die kommenden Wehen wegzuatmen, vielleicht haben sie auch etwas wehenhemmendes da; der Krankenwagen wäre in wenigen Minuten hier und ich würde sofort eine Spritze bekommen, irgendwas, dass diesen Wahnsinn stoppt, irgendwas, damit ich die Verantwortung in andere Hände abgeben kann. Die Hebamme fragt, wie sie mir helfen kann. Ich weiß es doch auch nicht, aber ich kann sagen, schreien, dass ich Angst habe. Ab dann wird es wieder besser und ich komme aus dem Nein wieder heraus. Ich muß mir Mühe geben, aber mithilfe dieser Ruhe, die meine Hebamme ausstrahlt und mithilfe dieser tiefen Verbindung, die wir beide während dieser Zeit eingehen, kann ich neuen Mut schöpfen und den Willen, weiterzumachen. Eine Stimme in meinem Kopf sagte immer wieder während der schlimmen Phase: "Bleib in der Liebe, geh nicht in die Angst." Es ist Schwerstarbeit, aber ich stehe nun wieder dahinter und ich komme wieder in eine Art Trancezustand: Die Wehenpausen sind länger und währenddessen schlafe ich tatsächlich ein oder bin zumindest tiefstentspannt. Gleichzeitig schlafen auch die Hebamme vor mir und der Radfahrer hinter mir, beide mit dem Kopf auf dem Beckenrand. Beginnt dann eine neue Wehe, sind wir alle drei sofort wieder da. Der Radfahrer wird mir später beschreiben, dass eine von mir ausgehende Kraft ihn in diesen Rhythmus mit hineingezogen hatte. Irgendwann frage ich die Hebamme, ob die langen Pausen so in Ordnung sind. Sind sie, bestätigt sie, mein Körper holt sich so die Kraft, die er benötigt.
Es wird schon hell, als die Hebamme vorschlägt, jetzt die Wanne zu verlassen, da es nicht mehr so recht vorangeht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie ich da rauskommen soll, willige aber ein, würde sowieso in allem den Vorschlägen meiner Hebamme folgen. Zu dritt holt man mich also aus der Wanne, mir wird sofort eiskalt, und bugsiert mich zum Bett. Der Radfahrer sitzt nun auf dem Bett, ich auf dem Knien vor ihm mit dem Kopf auf seinem Schoß. Eine Ahnung habe ich, dass hier eine neue Phase beginnt. Als nächstes liege ich halb auf dem Bett, gegen den Radfahrer gestützt, die Beine gegen die Hebamme gestemmt, die mich nun ermuntern muss, weil ich immer schwächer werde. Dann werde ich wieder umgelagert, diesmal sitzt wieder der Radfahrer auf der Bettkante und ich hocke zwischen seinen Beinen, abgestützt auf seinen Oberschenkeln. Ich erinnere mich noch daran, dass mir einfällt, es wäre besser mich in den Stoff seiner Jeans zu verkrallen, statt in seine Beine. Darauf eingestellt und völlig in den Vorgang ergeben, dass es jetzt noch so stundenlang weitergeht, obwohl beide Hebammen nun eine gewisse Aufgeregtheit ausstrahlen, mache ich einfach weiter. Die Wehen sind jetzt eigentlich ununterbrochen. Ich kann nicht anders, muss nach meiner Mutter rufen. Der Kopf sei gleich geboren, hieß es, ich mache einfach weiter. Ich solle jetzt mal etwas höher gehen, wurde mir angeordnet. Aber ich kann nicht und irgendwie zieht mich der Radfahrer etwas höher und ich mache einfach weiter. Aber statt erst den Kopf und dann einige Minuten später den Körper zu gebären, ist auf einmal in einer großen Bewegung das Kind da und wird mir auch schon, leicht zappelnd, hingehalten. Der Radfahrer erzählt später: "Dann machte es nur noch 'Schnapp' und sie hatte ihr Kind im Arm!" Es fühlt sich fest und beweglich und warm und glatt an und ich sage nur "oh oh oh oh oh". Ich höre nur, wie die eine Hebamme sagt, jetzt versuchen wir mal, sie ins Bett zu legen und denke nur kurz, wie wollt ihr dass denn schaffen? Aber irgendwie schaffen sie es und ich sage nur "guckmal" zum Radfahrer. Das Kind wimmert leise, als es auf meiner Brust liegt, und sieht aus wie ein kleiner Außerirdischer mit lang nach hinten verzogenem Kopf, eingedrückter Nase und verschrumpelten Händen: wunderschön!

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Freitag, 19. Juli 2013
Hochzeit
Die kleine Schwester lädt zur Hochzeit und wir machen uns auf Richtung Osten. Zum erstenmal eine Reise mit Übernachtung mit dem kleinen Mädchen. Vor der Abreise muss noch der schnelle Golf, den uns ein Freund leiht, abgeholt werden. Es wird mal wieder hektisch, weil der Radfahrer nicht am Abend zuvor gepackt hatte, wie angeordnet, und dann zwei Taschen für sich befüllen musste, während ich mit einer für mich und das Kind auskam. Die Kleiderfrage klärte sich per glücklicher Fügung: Es musste in allererster Linie natürlich toll aussehen, daneben auch passen, ohne die ganze Zeit mit eingezogenem Bauch herumlaufen zu müssen (deswegen fielen alle verfügbaren Modelle aus meinem Kleiderschrank aus) und es musste stilltauglich sein. Da ich ja übermorgen wieder in meine alten Kleider reinzupassen gedenke, sollte es auch nicht unbedingt ein Vermögen kosten. Mein schneller Fund war so bequem, dass ich es sogar auf der Hin- und Rückfahrt trug, es hagelte Komplimente, es hatte nur 12 (!) € gekostet (eigentlich ein Sommerkleid mit dem Aussehen eines Abendkleides).
Das mit dem schnellen Golf war zwar einerseits ein Segen (auch, weil man das Kind einfach durch eine Seitentüre und nicht durch den Kofferraum ins Auto bekommt, wie bei unserem alten Twingo!), andererseits fehlte aber auch das einschläfernde Fahrgeräusch. Neue Autos haben auch Nachteile.
Die Feier war überraschend entspannt. Ein lauer Abend in dem schönen Innenhof einer mittelalterlichen Stadtresidenz, keine der obligatorischen Hochzeitsspäße und nette Freunde haben die beiden auch. Mit anwesend war auch meine allerjüngste Nichte, die zwei Wochen nach dem kleinen Mädchen geboren wurde, aber schon fast doppelt so groß ist und das Aussehen eines Minisumoringers hat.
Auf der Rückfahrt fand der verrückte Radfahrer, er könne sich ja vielleicht doch mal einen Anzug kaufen. Mein ich ja auch.

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