Samstag, 20. Juli 2013
Geburt
Vor gut drei Monaten, die Tage glichen sich alle und sind sehr friedlich: Ich mache einen Spaziergang, langsam den Berg hoch, dort eine Runde um das Feld, manchmal auch einen Stück durch den Wald, dann den Berg langsam wieder zurück. Ich lese viel zu Hause, feile noch ein wenig an den letzten Texten, dich ich vor der Geburt abgeben wollte. Der verrückte Radfahrer macht derweil Radtouren und kocht abends für mich. Wir sind ganz froh, dass unser kleines Mädchen sich noch Zeit lässt. Auch wenn wir uns auf sie freuen, verunsichert uns dieses neue Leben. Am Samstag verläuft der Tag genauso, nur dass der Radfahrer auf einem Kongress ist (Handy dabei und der Rückweg würde nur eine halbe Stunde dauern). Ich treffe auf meinem Spaziergang eine Kollegin, unterhalten uns kurz, es gibt nichts Neues zu berichten. Dann gehe ich alleine weiter, überdenke die Lage und bemerke, dass ich das Kind noch nicht kommen lassen möchte. Ich bin noch nicht bereit, es ist ja auch alles schön bequem so, wie es ist. Wenn ich mit der Geburt aber nicht doch noch im Krankenhaus landen will (auf keinen Fall!), muss ich mich dem neuen Leben langsam mal stellen. Und während ich so durch den Wald laufe, versuche ich das Kind willkommen zu heißen, mich bereit zu machen. Abends bespreche ich die Lage mit dem Radfahrer und rate ihm, nicht ganz so spät ins Bett zu gehen, damit er halbwegs ausgeschlafen sei, wenns beispielsweise frühmorgends losginge. Dass ich während des Tages dreimal ordentlich auf der Toilette war, also den Darm gut entleert hatte, nahm ich als Zeichen für eine bevorstehende Geburt - irgendwann am nächsten Tag vielleicht.

Wie jeden abend gab es einige unspezifische Senkwehene, von richtigen Wehen hatte ich nach wie vor keine Ahnung. Um 23 Uhr gehe ich zu Bett. Um 23:15 weiß ich, was eine richtige Wehe ist: stark, so dass ich sofort auf allen Vieren bin. Und ich weiß auch, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. 10 Minuten später die nächste und dann so weiter. Ich laufe in der Wohnung herum, muss mich bei jeder Wehe irgendwo festhalten, so stark sind sie von Anfang an, dazwischen singe ich, irgendwas, was mir gerade in den Sinn kommt, das entspannt mich. Vom Singen wird der Radfahrer angelockt, den ich - ich bin einigermaßen ruhig - noch nicht informiert hatte, der soll mal noch eine Auszeit haben. Um Mitternacht sind die Abstände schon bei 7 Minuten, um halb eins rufe ich die Hebamme an, die Dienst hat, es ist zum Glück auch meine Nachsorgehebamme. Sie murmelt mit verschlafener Stimme (sie hatte tagsüber eine langwierige Geburt und war gerade ins Bett gegangen), ich solle mich melden, wenn die Wehen alle fünf Minuten kommen. Den Radfahrer schicke ich in mein Bett, er soll auch nochmal schlafen, ich wandere derweil noch in der Wohnung auf und ab, den Eimer immer griffbereit, weil mir ab und zu schlecht wird. Um halb drei, die Abstände betragen jetzt vier Minuten, die in mir arbeitende Kraft wird immer stärker und ich merke, dass ich jetzt mehr Unterstützung benötige, rufe ich erst die Hebamme an, wir verabreden uns für 3 Uhr ins Geburtshaus, dann wecke ich den Radfahrer. Kurz bevor wir loswollen, kann ich den Eimer dann auch endlich benutzen. Normalerweise habe ich nach dem Kotzen auch immer Kreislaufschwäche, diesmal nur das Gefühl, das ist nun erledigt, jetzt kann es losgehen. Im Auto hänge ich mit beiden Händen am Haltegriff und verfluche die vielen Schlaglöcher, eine Stunde früher zu fahren wäre auch nicht schlecht gewesen.

Im Geburtshaus angekommen, wartet schon meine Hebamme, die zweite wird erst gegen fünf Uhr dazukommen. Wir sind allein dort, im Geburtszimmer brennen einige Kerzen und die Hebamme lässt das Wasser in die große Wanne ein. Ich bin froh, endlich ins Wasser zu dürfen und es tut gut, mich während der Wehen an dem geknotetem Tuch über mir festhalten zu können. In der nun folgenden Zeit fühle ich mich völlig Eins mit dem Vorgang. Ich bewege mich im Wasser wie eine Schlange und summe in den Wehenpausen immer noch leise vor mich hin. Die Hebamme bugsiert mich irgendwann auf den Rücken und zeigt mir, wo ich mich festhalten und wo abstützen kann. Sie sitzt nun mir schräg gegenüber, der Radfahrer hinter mir, hält mir den Kopf und wischt mir ab und zu mit einem nach Rosen duftenden Waschlappen über Gesicht und Hals. Die Anwsenheit des Radfahrer ist schön, aber nicht notwendig. Ohne den ständigen Kontakt zur Hebamme vor mir, wäre ich verloren gewesen. Längst presse ich mit, aber dabei verliere ich den Kontakt. Ich weiß nicht, wohin ich schieben soll, die Kraft bleibt im Kopf - geplatzte Äderchen im Auge zeigen am Tag, wieviel Kraft ich unnötig verschwendet habe. Die Hebamme erklärt mir, dass ich nach unten pressen muss, aber während einer Wehe weiß ich nicht mehr, wo das ist und schreie sie schließlich an, sie solle mir doch zeigen, wo! Ab dann legt sie mir immer während einer Wehe die Finger auf dem Damm und ich kenne wieder die Richtung. Kurz müssen wir alle lachen, weil der Radfahrer auf die Anweisung, nicht im Kopf zu pressen, mein: "Aber sie ist doch Geisteswissenschaftlerin!" Trotzdem ist nun der Wurm drin. Die Schmerzen sind viel stärker, ich will nicht mehr, bekomme bei jeder einsetzenden Wehe eine Heidenangst und schreie schließlich währenddessen um Hilfe, ich kann garnicht anders. In meinem Kopf läuft kurz ein Film: Ich muß nur sagen, dass ich nicht mehr kann; die Hebammen werden helfen, die kommenden Wehen wegzuatmen, vielleicht haben sie auch etwas wehenhemmendes da; der Krankenwagen wäre in wenigen Minuten hier und ich würde sofort eine Spritze bekommen, irgendwas, dass diesen Wahnsinn stoppt, irgendwas, damit ich die Verantwortung in andere Hände abgeben kann. Die Hebamme fragt, wie sie mir helfen kann. Ich weiß es doch auch nicht, aber ich kann sagen, schreien, dass ich Angst habe. Ab dann wird es wieder besser und ich komme aus dem Nein wieder heraus. Ich muß mir Mühe geben, aber mithilfe dieser Ruhe, die meine Hebamme ausstrahlt und mithilfe dieser tiefen Verbindung, die wir beide während dieser Zeit eingehen, kann ich neuen Mut schöpfen und den Willen, weiterzumachen. Eine Stimme in meinem Kopf sagte immer wieder während der schlimmen Phase: "Bleib in der Liebe, geh nicht in die Angst." Es ist Schwerstarbeit, aber ich stehe nun wieder dahinter und ich komme wieder in eine Art Trancezustand: Die Wehenpausen sind länger und währenddessen schlafe ich tatsächlich ein oder bin zumindest tiefstentspannt. Gleichzeitig schlafen auch die Hebamme vor mir und der Radfahrer hinter mir, beide mit dem Kopf auf dem Beckenrand. Beginnt dann eine neue Wehe, sind wir alle drei sofort wieder da. Der Radfahrer wird mir später beschreiben, dass eine von mir ausgehende Kraft ihn in diesen Rhythmus mit hineingezogen hatte. Irgendwann frage ich die Hebamme, ob die langen Pausen so in Ordnung sind. Sind sie, bestätigt sie, mein Körper holt sich so die Kraft, die er benötigt.
Es wird schon hell, als die Hebamme vorschlägt, jetzt die Wanne zu verlassen, da es nicht mehr so recht vorangeht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie ich da rauskommen soll, willige aber ein, würde sowieso in allem den Vorschlägen meiner Hebamme folgen. Zu dritt holt man mich also aus der Wanne, mir wird sofort eiskalt, und bugsiert mich zum Bett. Der Radfahrer sitzt nun auf dem Bett, ich auf dem Knien vor ihm mit dem Kopf auf seinem Schoß. Eine Ahnung habe ich, dass hier eine neue Phase beginnt. Als nächstes liege ich halb auf dem Bett, gegen den Radfahrer gestützt, die Beine gegen die Hebamme gestemmt, die mich nun ermuntern muss, weil ich immer schwächer werde. Dann werde ich wieder umgelagert, diesmal sitzt wieder der Radfahrer auf der Bettkante und ich hocke zwischen seinen Beinen, abgestützt auf seinen Oberschenkeln. Ich erinnere mich noch daran, dass mir einfällt, es wäre besser mich in den Stoff seiner Jeans zu verkrallen, statt in seine Beine. Darauf eingestellt und völlig in den Vorgang ergeben, dass es jetzt noch so stundenlang weitergeht, obwohl beide Hebammen nun eine gewisse Aufgeregtheit ausstrahlen, mache ich einfach weiter. Die Wehen sind jetzt eigentlich ununterbrochen. Ich kann nicht anders, muss nach meiner Mutter rufen. Der Kopf sei gleich geboren, hieß es, ich mache einfach weiter. Ich solle jetzt mal etwas höher gehen, wurde mir angeordnet. Aber ich kann nicht und irgendwie zieht mich der Radfahrer etwas höher und ich mache einfach weiter. Aber statt erst den Kopf und dann einige Minuten später den Körper zu gebären, ist auf einmal in einer großen Bewegung das Kind da und wird mir auch schon, leicht zappelnd, hingehalten. Der Radfahrer erzählt später: "Dann machte es nur noch 'Schnapp' und sie hatte ihr Kind im Arm!" Es fühlt sich fest und beweglich und warm und glatt an und ich sage nur "oh oh oh oh oh". Ich höre nur, wie die eine Hebamme sagt, jetzt versuchen wir mal, sie ins Bett zu legen und denke nur kurz, wie wollt ihr dass denn schaffen? Aber irgendwie schaffen sie es und ich sage nur "guckmal" zum Radfahrer. Das Kind wimmert leise, als es auf meiner Brust liegt, und sieht aus wie ein kleiner Außerirdischer mit lang nach hinten verzogenem Kopf, eingedrückter Nase und verschrumpelten Händen: wunderschön!

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oh wow. bewegender bericht. glückwunsch zu so viel mut und krat. aber: ganz ohne schmerzmittel? o_O

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Ich vertraue in solchen Dingen lieber der Natur als den Ärzten und die hat das Gebähren nunmahl auch ohne Schmerzmittel möglich gemacht. In den Phasen, in denen ich keine Angst hatte, waren die Schmerzen durchaus erträglich. Die Hormonausschüttung, die dann einsetzen kann, versetzt einen in einen tranceähnlichen Zustand.

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Nichts ist so schön wie das Hormonhoch wenn die Schmerzen nachlassen... ich lieg immer mit glasigen Augen und entrücktem Lächeln da :-)

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War dann alles vergessen :)

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Nicht vergessen, aber irgendwie egal.

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Erstmal vergessen, weil man gerade anderes zu tun hatte: Staunen und Fingerchen zählen.

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Danke, daß Sie das aufgeschrieben haben.

Hab ich schon früher paar Mal gelesen, aber heute endlich wirklich Zeit & Ruhe.

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Hatte es längere Zeit offline und mich irgendwann doch noch getraut.

Mit dem Hintergedanken, anderen zu einer Geburtshausgeburt zu ermutigen...

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Das hat mich sehr bewegt.

Danke.

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Gern.

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