Donnerstag, 21. Mai 2015
Asyl
Wir sind etwas aufgeregt, als wir da so schnell zur Notsitzung einberufen um den großen Tisch versammelt sitzen. Alle haben es so kurzfristig nicht geschafft, aber stimmberechtigt sind wir längst. Eine Anwältin und eine Studentin von irgendeiner Flüchtlingsinitiative sitzen auch da, um uns über den Fall zu erzählen und zu beraten. Beide haben mich sehr beeindruckt, wie sie sich geduldig Zeit für unsere Fragen nehmen, ohne zu wissen, wie wir uns entscheiden werden. Sie müssen diese Prozedur schon oft hinter sich gebracht haben, nur um einen winzigen Schritt weiter kommen zu können.

Dann gehen sie und wir stimmen ab. Nicht einstimmig, obwohl wir es gewesen wären, damit die Staatsanwaltschaft uns nichts anhaben kann. Wir können nicht absehen, was auf uns zukommt, aber der Rechtsbruch, den wir mit unserem Ja eingehen, fühlt sich richtig an. Und ich bin stolz auf meine Kirchenvorstandskollegen, die trotz ihrer Bedenken dann doch alle mitmachen.

Einige meiner Kollegen wollten erst die Unterkunft, die Finanzierung, den Helferkreis organisiert haben, bis wir uns bereit erklären Asyl zu gewähren. Ich argumentiere dagegen: erst die Entscheidung, der Rest findet sich. Denn solange wir uns noch abzusichern versuchen, könnte er schon im Flugzeug nach Italien sitzen.

Natürlich bin auch ein wenig stolz auf mich, da mitzumachen. Andererseits ist es nur einer, einer unter Tausenden.

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Sonntag, 26. April 2015
Schuhe
Immer noch bewegt von diesem schönen Gottesdienst. Ich hatte zum ersten mal in meinem Leben das Abendmahl mit ausgeteilt und während der Predigt Tränen in den Augen. So laufe ich beglückt, aber auch unruhig in meinem Büro auf und ab, ja, heute am Sonntag: der Aufsatz, die Korrekturen, der Vortrag...!l

Und dann muss ich mit einem mal meinem Tigergang mit einem Sprung beenden. Jetzt weiß ich es nämlich auf einmal: Ja, ich will das, ich will das, ich will das, jetzt weiß ich es endlich ganz ganz sicher!

Nicht diese Sicherheit, wie, wenn ich Schuhe entdecke, die ich schön finde und haben will. Sondern so eine Sicherheit, die weiß, das sind meine Schuhe, in denen laufe ich jetzt!

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Freitag, 27. März 2015
Mann weg - Haare ab
Ich erfülle ja auch mal gerne Klischees und hatte heute deswegen einen Friseurbesuch. Ergebnis: Kinnkurz und Strähnchen, die man wirklich nicht als solche erkennt. Eigentlich hatte ich ja ganz andere Vorstellungen, so hübsch gestuft und halblang. Immerhin, nach jahrzehntelang langer Mähne. Die Chefin, wie die Dame des Ladens von allen nur genannt wird, redete mir meine Pläne aus und gut zwei Stunden später und eine dreistellige Summe ärmer verkörpere ich einen ganz anderen Frauentyp.

Seitdem bin ich vom Spiegel nicht mehr wegzubekommen. Und meine Kollegin hat sich gleich die Nummer geben lassen von der Chefin.

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Freitag, 6. März 2015
Blitzliebeskummer
Auf dem Weg zur Tagesmutter sagt das kleine Mädchen im Radanhänger hinter mir, er ist geschlossen, weil es bergab doch noch recht kalt wird, "Mama beint". Sie kann mich nicht sehen, aber sie kann es wohl fühlen. Bei der Tagesmutter wollte ich eigentlich dieser lieben Frau nur sagen, dass die Kleine gerade vielleicht etwas durcheinander sein könnte, aber da weine ich schon wieder.
Jetzt ist das kleine Mädchen krank. Nicht verwunderlich. Eben wegen der neuen Situation seit fünf Tagen, aber auch, weil die anderen Kinder in der Gruppe alle Grippe hatten. Gestern Nacht war sie nochmal wach, mit Fieber, aber nicht weinerlich. Verlangt, dass ich zu ihm gehe, das wollte sie schon mehrfach vor der Aussprache. "Mama Papa hingehen." Nachdrücklich. Ich würde ja gerne.

Seit einigen Wochen ging es mir viel besser. Kaum noch aggressiv, fühlte mich wieder als Frau und konnte in ihm auch wieder einen Mann und nicht nur den großen bockigen Jungen sehen, der mir immer entgegentrat. Es war zu spät. Er sagte mir, und auch erst, als ich das Wort mal ausgesprochen hatte, dass er sich eigentlich schon vor langer Zeit von mir getrennt habe.

Zwei Tage und Nächte schlimm. In der dritten Nacht kam auch Erleichterung dazu. Und jetzt? Sowieso, aber nach dem Gespräch mit der wunderbaren Frau vorhin noch viel mehr: Stärke, Leichtigkeit, manchmal sogar geradezu Beschwingtheit. Und eben Erleichterung: Nein, ich muss die nächsten Jahrzehnte nicht unbedingt mit einen Partner verbringen, der ständig und bis zur Erschöpfung mit seinem Rad auf der Flucht sein muss, der alle Abende draußen auf der Terrasse sitzen will, der Angst vor Konflikten, einer neuen Wohnung oder sonstigen Veränderungen hat, der Gummistiefel sammelt und Frauenkleider trägt.
Und nun verstehen wir uns prächtig. Intensive Gespräche, über all die wichtigen Themen, die in den letzten Monaten nicht angesprochen wurden, und endlich die Augenhöhe, die ich mir immer gewünscht habe. Von ihm, der sich ja eigentlich getrennt hat, kommt viel Wärme, sogar die ein oder andere Zärtlichkeit.

Ich will gerade nicht überlegen oder sogar hoffen, ob wir uns wieder annähern können, ob ich es überhaupt möchte. Ich bin gerade einfach neugierig, wie in einem Spiel, wie es weitergeht. Die wunderbare Frau fasste es so zusammen: Er hat dich im Wochenbett alleine gelassen, als du bedürftig warst, er aber nicht in der Lage war, und wenn auch nur für eine zeitlang, die Versorgerrolle zu übernehmen (also emotional, Haushalt hat er ja gemacht und mich mit dem Kind entlastet, wo er nur konnte). Ich habe also wieder, wenn auch auf aggressive Art, die Überverantwortung übernommen, also für ihn die Mutterrolle. Gleichzeitig habe ich den kleinen Jungen abgelehnt, seine Kindersprache verboten, ihm genervt Tischmanieren beigebracht. Dann habe ich den kleinen Jungen verlassen, als ich mich wieder dem Mann im verrückten Radfahrer zuwandte - das wurde ungemütlich für ihn, weil er nun wieder Verantwortung für sich selbst übernehmen sollte. Daraufhin hat er die Mutter, die ich für ihn verkörpere, streng und demütigend, verlassen und wir treffen jetzt als Erwachsene aufeinander. Also hat mein Entwicklungsschritt doch einen von ihm nach sich gezogen und dies ist erstmal als ein Erfolg zu werten.

Wegen des kleines Mädchens tut es mir Leid. Ich wollte für sie eine intakte Familie und hab es doch wieder vermasselt.

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Dienstag, 27. Januar 2015
Geleitschutz
Abends mit dem Rad auf dem Weg nach Hause. Hinten dran hängt der Anhänger, mit dem ich morgens das kleine Mädchen zur Tagesmutter gebracht hatte. Jetzt leer, aber das sieht man im Dunkeln ja nicht. Als ich aus der Stadt herausradle, ich muss ein Stück Landstraße im Dunkeln fahren, ist es auf einmal neblig und irgendein Idiot hinter mir traut sich trotz freier Straße nicht zu überholen. Fährt also die ganze Zeit dicht hinter mir. Auch auf der langen Gerade klebt das Fahrzeug hartnäckig an meinem Hinterrad und schleicht den Berg hoch. Oben angekommen halte ich auf einer Wegabzweigung, damit der Angsthase endlich weiter kann - und auch um zu testen, ob es glatt ist. Weiß ich gerne vorher, bevor ich wieder herunterfahre. Der Wagen hält auf meiner Höhe und die Fahrerin ruft mir zu, dass sie absichtlich hinter mir geblieben sei, weil ich kaum zu sehen bin. Achso. Sie biegt dann aber ab und ich lasse mich den Berg herunter rollen und bekomme abermals Geleitschutz, bis ich wieder eine beleuchtete Straße erreiche.
Danke an die beiden unbekannten Autofahrer.

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Mittwoch, 21. Januar 2015
Sowas darf nicht passieren. Alle, die von meinen Wutanfällen wissen und denen ich meine Befürchtung mitteilte, beschwichtigen immer mit den Worten "Nein, das wirst du nie tun." Woher nahmen sie die Gewissheit? Heute morgen. Eigentlich war es gar nicht so schlimm. Eigentlich war ich nicht so ungeduldig oder gereizt, dass ich Gefahr in Verzug vermutete und alles ganz langsam machte. Wir waren beide recht gut gelaunt und einigermaßen ausgeschlafen. Es passierte beim Anziehen, das wird gerade nicht so gerne mitgemacht. Jetzt, neun Stunden später, fühlt es sich noch immer so an, als ob es mir passiert wäre. Dabei habe ich es getan.

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Samstag, 3. Januar 2015
Weihnachten
Dieses Jahr hatte ich mit genügend Vorlauf durch den verrückten Radfahrer ausrichten lassen, dass ich mit dem kleinen Mädchen Heiligabend bei meinen Eltern sein möchte. Letztes Jahr waren wir alle drei bei Schwägerin und Schwiegermutter mit laufendem Fernseher und, nach meinem Intervenieren, dann Radio mit verpoppten Weihanchtsliedern. Ich will das so nicht und bei meinem Eltern gibt es bildungsbürgliches Kinderweihnachten: Glöckchen, echte Kerzen am Baum, Erzgebirge-Pyramide, die Weihnachtgeschichte vorgelesen von meinem Vater, jede Menge Weihnachstlieder, festliche Kleidung und feierliche Stimmung. In den Tagen darauf sogar Darbietungen mit Trompete, Klavier und Cello. Eine ungebrochene Tradition, weil immer Kinder da waren. Denn als meine nachzüglerische jüngste Schwester erwachsen wurde, gab es bereits die ersten Enkel und meine alleinerziehende (andere) Schwester ist sowieso mit ihrem Jungen immer da.
Das kleine Mädchen hat sich erst etwas gefürchtet, als wir uns in (fast) absoluter Dunkelheit, nachdem das Glöckchen das dritte Mal erklungen war, zum Weihnachstzimmer tasteten. Das gehört dazu. Wie auch das Bewundern des Baumes. Sie saß die erste Zeit noch etwas verschüchtert auf meinem Schoß, musste mich dann aber schon während 'Es ist ein Ros entsprungen' an der Hand zu allen Kerzen, die im Raum aufgestellt waren, ziehen. Große Freude.
Mit dieser Freude konnte ich dann auch der Gans meiner Schwiegermutter am nächsten Tag entgegentreten. Weil wir ja nur so kurz da sind, gab es die Gänsekleinsuppe (die Fettschicht betrug bestimmt 1 cm Höhe) als Vorsuppe, dann zuviel Gans und anschließend zuviele Geschenke. Ich könnte nicht mal mehr auflisten, was allein ich alles von ihr bekommen habe; das meiste liegt schon wohlverwahrt im Müll. Sie schenkt uns alles, was ihr an Werbegeschenken in Apotheken und Sonderangeboten bei Kik in die Finger kommt. Aufs Alter, immerhin schon 80, kann man das nicht schieben, da sie wohl schon immer Ramsch im großen Umfang verteilte. Geduldig sein und Nerven schonen für den dritten Akt, wieder bei meinen Eltern:
Am zweiten Weihnachsttag folgte dann der große Aufmarsch bei meiner Familie: 24 Personen, davon 11 zwischen 6 Monaten und 16 Jahren. Wir schaffen es nun nicht mehr alle an der langen und noch länger ausziehbaren Tafel Platz zu finden. Ein bewährtes System muss sich erst noch etablieren oder vielleicht auch nicht. Aber die Kinder früher Essen zu lassen funktionierte genauso wenig wie Büffet. Immerhin ist dieses Jahr meine Mutter nicht durchgedreht, es gab keine größeren Heulanfälle bei den Kleinen (und ebenso keine bei den Großen, wie sonst oft), meine alleinerziehende Schwester hat nur wenig gezickt, es gab so gut wie keinen (!) Streit. Nur für kurze Zeit wurde mein Schwager Nr. 4 anstrengend, der als reiner Schulmediziner-Kinderarzt in einer teilweise Impfgegner- und naturheilverfahrenanhängenden Familie sich oft ärgern muss, dann beließen es aber beide Seite mit Kopfschütteln und Achselzucken.

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Donnerstag, 11. Dezember 2014
Wärme
Vor der großen Besprechung ist immer eine gewissen Anspannung zu spüren, da der Ausgang nie ganz gewiss ist und wir alle Angst vor erneuten Streitigkeiten haben. Der Projektleiter ist schon da, er ist immer als erstes da. Ich komme gutgelaunt und voller Energie dazu und verkünde im Hereinkommen und Begrüßen, dass ich soeben von der Krankmeldung eines Mitarbeiters erfahren habe. In Eile und Schwung verwechsle ich den Namen des Mitarbeiters mit dem des Projektleiters. Als er daraufhin seine Gesundheit bekundet, entschuldige ich mich lachend, wobei ich ihm kurz eine Hand auf den Arm lege. Diese Geste war absolut spontan und für mich und meine Zurückhaltung in diesen Dingen ungewöhnlich.

Heute, vier Tage später, Nachbesprechung im kleinen Kreis. Der Projektleiter geht anders mit mir um. Wärmer, persönlicher, schaut mich länger an, scheint vertrauter. Ich denke nicht, dass er in meiner Geste eine Anmache vermutete, ich denke, dass sie einfach ein Herz geöffnet haben.

Öfter mal spontan und herzlich sein.

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Dienstag, 18. November 2014
Sankt Maatin, Sahankt Maaaahtin...
Erster Martinszug mit allen Kindern der Tagesmutter und der Nebentagesmutter. Acht Kleinkinder, ca. 3 ältere Geschwisterkinder, nicht ganz 16 Eltern und zwei Tagesmütter. Die Laternen waren sehr hübsch gebastelt. Wir wurden dafür eines Abends von den Tagesmüttern einbestellt. Erst war für den verrückten Radfahre klar, dass ich das mal machen solle, dann fühlte er sich dieser neuen Herausforderung doch gewachsen und zog mit Bastelschere und Kleber los.

Jetzt also das große Ereignis. Alle aufgeregt. Das kleine Mädchen, die Jüngste in der Gruppe, zog mich eifrig hinter sich den Berg hoch. Sie kannte den Weg, dorthin geht es oft zu den Eseln. Wir waren also längst vor den anderen oben. Schöner Blick über die Stadt und die kleinen bunter Lichter, die durch das Gebüsch hin und herschwenkten. Keine Laterne ging in Flammen auf, obwohl nur echte Kerzen verwendet wurden. Geht doch. Ich hatte deswegen schon wilde Diskussionen mit anderen Müttern (Väter scheinen das Thema entspannter zu sehen).
Wieder zurück brannte bereits ein Feuer in einer großen Schale und wir drängten uns alle auf die Kisten und Bänke drumherum. Selbstgebackene Zimtschnecken und Kinderpunsch und noch ein paar Lieder, bis die Kleinen aus Müdigkeit zu zappeln und quengeln begannen.
Seitdem müssen wir jeden Abend die Laterne anzünden und das kleine Mädchen fordert Martinslieder ein.

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Montag, 10. November 2014
Filzpilze
Wofür hat man eigentlich eine Institutssekretärin? Unsere ist gut im Stricken und Filzpilze (ich konnte ihr nur mühsam ausreden, diese zum Dekorieren der Stehtische beim Empfang zu verwenden: KEINE FILZPILZE AUF AKADEMISCHEN TAGUNGEN!) kann sie auch. Sie ist überfordert, wenn sie eine Tagung organisieren muss (sie ist auch mit allem anderen überfordert) und mit ihr ist die gesamte Abteilung überfordert, weil sie dann jeden kleinsten Schritt mit ALLEN besprechen muss und ALLE über jeden Fortschritt/Mißerfolg, über jede Anmeldung und Abmeldung usw. informiert. Zeitnah versteht sich. Je näher die Tagung rückt, desto hektischer und lauter wird sie. Achja, Tagungsorganisation gehört zu ihren Hauptaufgaben.

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