Freitag, 11. Januar 2013
E.
Abends rufe ich nochmal meine Mutter an. Eigentlich nur um ihr zu sagen, dass ich nicht kommen werde. Irgendwann muss ich mich ja entscheiden und während des Telefonats sage ich dann doch mein Kommen zu und merke mit meinem sofortigen Ruhigerwerden, dass es so richtig ist. Also Zugfahrt Richtung Ruhrgebiet, auf der ich weiter an der Rezension und diversen Korrekturen arbeite, hin und wieder unterbrochen von einer Vierjährigen, die mich auf der gemeinsamen Strecke alsd ihre Freundin auswählte und von Gedanken an diese schöne Freundschaft vor vielen vielen Jahren.
Ich komme so gerade noch rechtzeitig, vor der Kapelle steht ein kleines Heer an Sargträgern in beeindruckender Größe (also alle Männer waren beeindruckend groß), drinnen wartete schon meine Mutter voller Sorge. Und dann: ehemalige Lehrer, Schulkameraden, eine Klassenkameradin samt Bruder - also die gesamte bunte Nachbarschaft von vor über 20 Jahren. Ich habe seit Ende meiner Schulzeit niemanden mehr von ihnen gesehen und hätte diese Bekanntschaften auch nicht mehr zu sehen gebraucht. Aber das hier ist mir Ehrensache. In der Kapelle steht der Sarg, leider verschlossen, sie werden schon wissen warum. Aber ich hätte sie gerne nochmal gesehen, dass letztemal mag sie 17 Jahre alt gewesen sein.
Der Pfarrer fasst ihr kurzes Leben zusammen und über viele Dinge bin ich erstaunt. Auch erschreckt und stolz über die Geschichte, dass sie irgendwann einfach ihr geliebtes Cello zertrümmert hat. Aus Wut, weil sie es nicht immer besser spielen konnte, wie alle anderen, sondern es ihr immer schwerer fiel. Und diese Wut und der unbändige Wille dahinter, soviel von dem Leben mitzubekommen, dass ihr teils durch ihre Krankheit, teils durch die Gesellschaft verweigert wurde, wie es nur geht. Ein Leben im Zeitraffer.
Die Familie freut sich über ein Kommen, ich war ja etwa 10 Jahre lang ein Teil von ihnen und leider ergibt sich keine Gelegenheit, mich dafür zu bedanken. Sie wissen nicht, wie wertvoll diese Sommernachmittage im Nachbargarten waren, aber sie müssen es vielelicht auch nicht wissen. Ich spreche viel mit dieser wunderbaren Frau aus Sri Lanka, jetzt auch schon alt, und sie erzählt mir von ihrem Versuch, ihr das Akzeptieren beizubringen, aber sie wollte nicht akzeptieren, sondern ankämpfen gegen ihren Körper, gegen ihr verschwindendes Gehirn, dagegen, schließlich in einem Pflegeheim leben zu müssen. Ihre Therapieverweigerung, Instrumentenzertrümmerung, Trennung vom Partner war ihre wütende Art, mit ihrem Anderssein umzugehen.
"Da, wo sie war, da wurde nicht gestritten." Meine Mutter sagte es zuerst beim Kaffeetrinken und dann fiel es allen auf, so war es. Wenn sie als oft und gerngesehener Gast in meiner streitsüchtigen Familie war, unter uns Nachbarkindern, mit allen ihren Freunden und später wohl auch im Pflegeheim, mit ihr stritt man nicht, es gab keinen Grund und es gab auch um sie herum keinen Grund mehr zu streiten.
Ich versuche meinen Frieden damit zu machen, dass ich damals irgendwann einfach nicht mehr an der Tür des Nachbarhauses geklingelt habe, wie in den Jahren zuvor fast jeden Tag, oder lieber noch, direkt durch das kleine Loch in der Hecke gekrochen bin.

Und noch: Erst bin ich traurig darüber, dass das Ehepaar aus Sri Lanka nach 35 Jahren Berufsleben wegen der geringen Rente in seine Heimat zurückkehren will, wo doch Kinder und Enkel hier in Deutschland sind. Aber nachts, als ich nochmal über alles nachdenke fällt mir ein, dass sie eigentlich privilegiert sind, weil sie die Wahl haben.

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